Die Tragödie des Muhammad M.
Allzu beliebt ist der erste demokratisch gewählte Präsident Ägyptens nicht. Mursis Aktionen stoßen auf Unverständnis und Kritik. So muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, die noch junge Demokratie zugunsten einer Alleinherrschaft der Muslimbrüder auszuhöhlen. So ließ etwa Mohammed el-Baradei vergangene Woche wissen: „Es gibt keinen Platz für Dialog, wenn ein Diktator unterdrückende und abscheuliche Maßnahmen erlässt und dann sagt, lasst uns auf der Mitte treffen“. Der Oppositionsführer kritisierte damit Mursis umstrittene präsidentielle Dekrete. Mit diesen, so seine Kritiker, will sich Mursi zum „Alleinherrscher“ Ägyptens machen. Doch ganz so einfach ist das nicht.
Der Hintergrund des Streits ist eine Entscheidung des ägyptischen Verfassungsgerichtshofs aus dem Juni, das Parlament aufzulösen. In diesem stellten die Muslimbrüder die Mehrheit. Im Oktober gab es einen weiteren scheinbaren Justizskandal. 24 ehemalige Funktionäre des Mubarak-Regimes wurden von Vorwürfen freigesprochen, am Einsatz von berittenen Einheiten gegen Demonstranten auf dem Tahrir-Platz beteiligt gewesen zu sein. Bekannt geworden ist dieser Vorfall als „Schlacht des Kamels“. Mursi fackelte nicht lange und ernannte den seiner Meinung nach Verantwortlichen, den bereits unter Mubarak ernannten Generalstaatsanwalt Abdelmajid Mahmud, zum Botschafter im Vatikan. Dieser weigerte sich allerdings schlichtweg, zurückzutreten; Mursi habe nicht das Recht, ihn von seiner Position zu entbinden. Zwei Tage später war alles nur ein „Missverständnis“ und Mahmud durfte im Amt bleiben.
Umstrittene Dekrete
In den vergangenen Wochen erließ Mursi dann mehrere umstrittene Dekrete: einerseits seien gewählte Gremien nicht mehr von der Justiz auflösbar und andererseits seien präsidentielle Anordnungen juristisch nicht anfechtbar. Erneut kam es zum Eklat und zu den Vorwürfen, der Präsident handle diktatorisch und gefährde damit die Revolution. Erneut musste Mursi zurückrudern: diese Dekrete seien nur temporär. Die bereits vor der Wahl laut gewordenen Bedenken, dass die Muslimbruderschaft die alleinige Kontrolle über Ägypten erringen wollte, scheinen bestätigt.
Doch die Arbeit Mursis selbst findet unter massiv erschwerten Bedingungen statt. Nicht nur, dass er mit Widerständen aus der Justiz und vor allem den Streitkräften rechnen muss, er ist zudem von Überbleibseln des alten Mubarak-Regimes umgeben. Die Richterschaft wurde beispielsweise noch Großteils unter Mubarak ernannt, ebenso der Generalstaatsanwalt. Glaubt man ihm, versucht Mursi mit aller Kraft und undemokratischen Mitteln, die Errungenschaften der Revolution zu erhalten. Gestern rechtfertigte er sich gegenüber Time: Er versuche lediglich, das "nationale Schiff" am Sinken zu hindern.
Dabei stellt sich der 61-jährige Ingenieur und Universitätsprofessor allerdings denkbar ungeschickt an. Mit seinen Aktionen geht er direkt auf Konfrontationskurs nicht nur mit der Richterschaft, sondern auch den liberalen Teilen der Gesellschaft. All jene, die bereits ohnehin eine Dominanz der Muslimbruderschaft fürchten, wurden scheinbar bestätigt, als die Islamisten in der verfassungsgebenden Versammlung verschiedene Scharia-Bezüge in den Text übernahmen. Mursi verspielt mit solchen Aktionen das ohnehin bereits massiv erschütterte Vertrauen in seine Fähigkeit, den Staat effektiv zu lenken und die Revolution zu schützen, denn dafür braucht er das Vertrauen und die Mitsprache aller Teile der Gesellschaft. Im Augenblick hat er nur die Unterstützung der Islamisten.
Bild: European External Action Service, CC BY-NC-ND 2.0, keine Änderungen vorgenommen